Das endlose Sterben im Mittelmeer – eine Bankrotterklärung der Politik
Jetzt sind die Vereinten Nationen gefordert (von Heiko Kauffmann, Preisträger 2001)
Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind mehr als 25.000 Menschen bei dem Versuch gestorben, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, über die Hälfte davon in den letzten dreieinhalb Jahren – 2014: 3000 Tote; 2015: 3600 Tote; 2016: 5000 Tote; bis Mai 2017: 1500 Tote. Ja, Europa entsendet auch Schiffe. Aber nicht, um vorrangig Menschenleben zu retten, sondern um „kriminellen Schleppernetzwerken“ den Garaus zu machen. Diese dienen nur als Vorwand, um die Augen vor den realen Ursachen der Flucht von Millionen weiterhin verschließen zu können.
Das Mittelmeer als Kampfzone einer „bis an die Zähne“ bewaffneten Allianz von Staaten gegen wehrlose Menschen auf seeuntauglichen Booten wird zum Symbol der Grausamkeit Europas und des Verlustes seiner menschlichen, angeblich „europäischen“ Werte.
Das hat nach der Einstellung der italienischen Seenotrettungs-Operation Mare Nostrum im Oktober 2014 die Zivilgesellschaft auf den Plan gerufen. Inzwischen konnten die Seenotretter von SOS MEDITERRANEE, Sea-Watch, See-Eye, Jugend Rettet und anderen Initiativen seit dem Frühjahr 2016 in mehreren hundert Einsätzen über 50.000 Menschen vor dem Ertrinken retten oder aus akuter Seenot bergen.
Damit aber sind sie den Verfechtern der ‚Festung Europa’ zunehmend ein Dorn im Auge: obwohl die zivilen Helfer mit ihren wenigen Booten inzwischen mehr als 4o Prozent aller Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer bewältigen, geraten nun ausgerechnet sie selbst ins Visier der europäischen Abschreckungspolitik. Man unterstellt ihnen eine „Zusammenarbeit mit Schleppern“ und die „Unterstützung illegaler Einwanderung“. Natürlich stellten sich diese absurden Vorwürfe als völlig haltlos heraus; diese Denunziationskampagne sollte die Seenotretter diskreditieren, die Öffentlichkeit verunsichern und den Spendenfluss eindämmen. Überdies bestärkt sie populistische, rassistische und auch kriminelle Gegner einer menschlichen Flüchtlingspolitik in ihrem gefährlichen Handeln – in ganz Europa. So kam es am 23. Mai dieses Jahres, als über 1000 Flüchtlinge von SOS Mediterranee und anderen zivilen Organisationen in einem heiklen Einsatz gerettet wurden, zu einem bewaffneten Zwischenfall mit der libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge bedrohte und das Leben Hunderter von Menschen in Gefahr brachte. Und ausgerechnet diese libysche Küstenwache, die in gewaltsame Auseinandersetzungen und in schlimmste Menschenrechtsverletzungen, begangen an Flüchtlingen, schuldhaft verstrickt ist, wird nun von der EU finanziell und materiell aufgerüstet und gefördert – ein humanitäres Desaster und die Bankrotterklärung der Politik.
Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren und aus maroden Booten zu retten, ist für eine Gesellschaft, die den Menschenrechten und der Menschenwürde verpflichtet ist, eine völkerrechtliche, rechtsstaatliche, humanitäre und moralische Pflicht, die Politik nicht ignorieren darf. Ein Blick auf die heutige, auf über 65 Millionen angewachsene Zahl von Flüchtlingen weltweit und auf die jeweiligen radikalen nationalen und repressiven Abwehrstrategien gegen sie – in Europa, Australien, USA/Mexiko, Südostasien, Australien – verdeutlicht die ganze Dramatik der aktuellen Defizite, aber auch die jetzt dringend notwendigen humanitären und völkerrechtlichen Erfordernisse und Reformen in den Asylpolitiken der Staaten.
Angesichts des desaströsen Versagens der EU-Staaten in der größten humanitären Krise Europas nach Ende des Zweiten Weltkrieges sind heute – vor allen anderen – die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär als politische und moralische Führungsinstanz gefordert, sich dieser globalen Herausforderung zu stellen. Anknüpfend an die großen UN-Konferenzen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts könnten maßgebliche UNO-Organe und ihre wichtigsten Organisationen im Zusammenspiel mit kompetenten, bei ihr assoziierten oder mit Konsultativstatus ausgestatteten NGOs sowie mit einigen, von der humanitären Flüchtlingskrise besonders betroffenen Ländern (Griechenland, Italien, Türkei) und einigen gutwillig bereiten Staaten (Schweden, Deutschland?) einen breiten Dialog initiieren, der seine Wirkung nicht verfehlen würde.
Die UN-Weltkonferenzen der 90er Jahre (Weltklimagipfel, Weltkindergipfel, Menschenrechtskonferenz, Weltfrauenkonferenz u.a.) strebten mit Blick auf das bevorstehende 21. Jahrhundert Zielvorgaben und Lösungen für die drängendsten Probleme der Weltpolitik an. Sie erarbeiteten – bei starker Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Organisationen – Aktionspläne, formulierten Entwicklungsziele und Perspektiven, die noch heute Gültigkeit haben und – bei allen Abstrichen und berechtigter Enttäuschung über die mangelnde „Geschwindigkeit“ ihrer Umsetzung – auch gegenwärtig noch die Grundlage und den Maßstab jeder Weiterentwicklung und Neujustierung ihres Agenda-Themas bilden. Durch ein solches „Empowerment“ einer stärkeren, auch institutionell verankerten Zusammenarbeit auf UN-Ebene könnte und sollte ein zwischenstaatlicher Prozess zwischen direkt betroffenen Ländern auch im Fall der Mittelmeer-Flüchtlinge eingeleitet werden.
Impulse dazu könnten im Vorfeld von einer „UN-Dekade zum Schutz von Flüchtlingen und zur Bekämpfung der sozialen, ökonomischen, ökologischen und politisch-institutionellen Fluchtursachen“ ausgehen. Diese von der UN beschlossenen Dekaden dienen vor allem der intensiven Aufklärungs- und Informationsarbeit in allen Ländern. Ein entsprechendes Vorgehen würde auch die engagierten BürgerInnen und die gesamte demokratische Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Seenotrettungsnhelfer in ihrem Einsatz für Demokratie und Menschenrechte stärken und ermutigen.
Im 2o. Jahrhundert , dem „Jahrhundert der Flüchtlinge“, hat die Zivilisation ihre Prüfung nicht bestanden. Im Mittelmeer, an seinen Außengrenzen, am heutigen und künftigen Umgang mit Flüchtlingen wird sich erweisen, ob Europa die Prüfung des 21. Jahrhunderts besteht.