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WissenschaftlerInnen für den Frieden (Türkei)

Im Januar 2016 veröffentlichten 1128 WissenschaftlerInnen verschiedener Universitäten einen gemeinsamen an die Regierung gerichteten Friedensappell: Die Unterzeichner fordern ein Ende des Militäreinsatzes in den kurdisch geprägten Gebieten und rufen zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen für den Friedensprozess auf.

Dieser Aufruf hat für die türkischen Hochschulen und die Unterzeichner erhebliche Folgen: Leib und Leben werden bedroht, berufliche Existenzen vernichtet, (regierungs-)kritisches Denken aus den Hochschulen verbannt.

Aufrufe, Petitionen und Veröffentlichungen gehören schon lange seit den massiven Einschränkungen der Meinungsfreiheit und der politischen Rechte zum Alltag kritischer Intellektueller und Wissenschaftler in der Türkei. Doch dieser Aufruf hatte aufgrund seiner Klarheit der Forderungen und der massiven Reaktion von Erdoğan selbst, Regierungsstellen und der Hochschulverwaltungen bereits einen Tag nach Veröffentlichung eine Sonderstellung.

Am 12.1.16 hielt Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Rede aufgrund der Anschläge in Istanbul – doch Hauptthema war der Aufruf der „WissenschaftlerInnen für den Frieden“: Erdoğan beschimpfte die Unterzeichnenden in seiner Rede als eine „Bande ignoranter, dunkler Gestalten“, bezeichnete sie als „Landesverräter“ und rief die Justiz dazu auf, das Nötige gegen diesen „Verrat“ von „Pseudo-Wissenschaftlern“ zu unternehmen.

Hintergrund:

Seit 2015 geht die türkische Armee mit einer massiven Offensive gegen die verbotene kurdische Organisation PKK vor und verhängte über 50 Ausgangssperren in Diyarbakır und benachbarten Städten, von denen manche ohne Unterbrechung wochenlang andauern. Durch die Kämpfe wurden Häuser, Infrastruktur wie Straßen, Strom- und Wasserleitungen zerstört, sodass sich in den eingekesselten Gebieten neben der akuten Lebensgefahr durch den Beschuss auch eine humanitäre Katastrophe abzeichnet.

Bisher kamen nach Angaben des türkischen Vereins für Menschenrechte mindestens 162 Menschen aus der Zivilbevölkerung ums Leben, darunter 32 Kinder und 24 Menschen im Alter von über 60 Jahren (Stand Februar 2016). Aufgrund der Ausgangssperre konnten und können viele Leichen nicht geborgen werden, Verletzte sterben, weil Krankenwagen und Notärzten kein Zugang gewährt wird.

Nach dem Aufruf der „WissenschaftlerInnen für den Frieden“ kam es zu massiver Hetze in den Medien, persönlichen Angriffen mit Rufmord in Zeitungen, Verhaftungen, Disziplinarverfahren (109 bis 22.1.) und Anklagen wegen „„Beleidigung des Türkentums, der Republik Türkei und ihrer Institutionen“. Ihnen wird außerdem vorgeworfen, „Propaganda für terroristische Organisationen“ zu betreiben.

Wenn wie in der Türkei die dominierende Ideologie die Interpretation von Rechtstexten vorgibt, werden Gesetze zu Instrumenten der Rechtsverletzung. Die Auslegung des Textes der Wissenschaftler für den Frieden ist ein bezeichnendes Beispiel für diese Entwicklung. Der Text wird als Unterstützungsschrift für die PKK interpretiert, da er sich („nur“) an die Regierung richtet. So klagte der Generalstaatsanwalt von Izmir gegen 37 (Stand Februar 2016) Unterzeichnende aufgrund § 302 des türkischen Strafgesetzbuches: Dort geht es um nichts Geringeres als um das „Zerstören der Einheit und Integrität des Staates“; darauf steht die erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe. Mittlerweile (Stand 15.3.16) sind drei Wissenschaftler inhaftiert, ein weiterer Haftbefehl besteht.

Ein Unterzeichner kommentierte, warum sich der Appell nur an die Regierung richtet: „Wir alle sind Bürger dieses Staates, deshalb kann auch nur dieser Staat unser Adressat sein und keine illegale Organisation. Wir wählen die Regierung dieses Staates und zahlen ihm Steuern. Er hat die Verantwortung. Wir sind nicht gegen den Staat, wir kritisieren dessen Kriegspolitik.“

Die unterzeichnende Soziologin Assoc. Professor Latife Akyüz beschrieb in einem Interview mit der türkischen BBC, wie sich ihr Leben innerhalb von drei Tagen änderte: Eine Freundin informierte sie einen Tag nach Erdoğans Rede über einen Artikel über sie in der lokalen Zeitung, der den Titel „Eine Verräterin in Düzce“ trug. Auf der Internetseite konnte sie die hasserfüllten und beleidigenden Kommentare lesen … z.B. der Eintrag der lokalen Kameradschaft der Grauen Wölfe, einer ultranationalistischen Gruppierung „Wir werden Düzce von der PKK bereinigen“. Mit jeder Minute wurde die Hetze schlimmer und verbreitete sich über die sozialen Medien. Latife Akyüz wurde Ziel sexistischer Kraftausdrücke und Morddrohungen. In ihrer Wohnung in Düzce zu bleiben, wo sie allein lebte, war nun zu gefährlich. Sie wurde zu einem sicheren Aufenthaltsort gebracht, erfuhr von ihrer Suspendierung nur über die Website der Universität. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, und gegen Akyüz wurde ein Festnahmebeschluss erwirkt. Sie wurde verhört und erhielt ein Ausreiseverbot. Aufgrund ihrer Unterschrift droht ihr wie den anderen Unterzeichnenden eine Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren.

Begründung des Vorschlags:

Erdoğan und seine AKP-Regierung haben mit diesem Krieg den Graben zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung enorm vertieft. Der vor 3 Jahren noch mit Hoffnung begonnene Friedensprozess ist vollständig zum Erliegen gekommen. Die kurdischen Forderungen nach kommunaler Selbstverwaltung und einer Autonomie für die kurdischen Gebiete innerhalb der Türkei werden von Erdoğan und seiner AKP als Vaterlandsverrat angesehen. Die türkische Regierung mobilisiert eine enorme nationalistisch-islamistische Hetze gegen »Separatismus und Terrorismus«. Inzwischen fordern Passanten von der Straße im türkischen Fernsehen »einen Genozid«, wenn die Armee den kurdischen Widerstand nicht »ausrotten« könne. Der Krieg in den kurdischen Gebieten und die massive Hetze vertiefen die ethnische Spaltung des Landes enorm, auch indem sie massive kollektive Traumatisierungen schaffen, die in das kollektive Gedächtnis eingehen werden. Erdoğans Strategie der Gleichschaltung der Medien und Beeinflussung des öffentlichen Bewusstseins scheint aufzugehen.

In dieser Situation hört man von Seiten der EU und der deutschen Regierung keinerlei Kritik, da die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung in der Flüchtlingsfrage nicht gefährdet werden soll. „Ein NATO-Land bekämpft seine eigene Bevölkerung mit NATO-Panzern und europäischen Waffen und Europa schweigt“, so ein Unterzeichner.

Der Aufruf der WissenschaftlerInnen für den Frieden hat eine Sonderstellung durch die Klarheit des Textes und der massiven Gegenreaktion des türkischen Staates, seiner Organe und der diffamierenden öffentlichen Reaktion.

Manche Unterzeichner haben aufgrund des Drucks ihre Unterschrift zurückgezogen, doch die Anzahl der Unterstützer hat sich bereits auf über 2000 erhöht, es folgten zahlreiche Appelle anderer Berufsgruppen und es zeichnet sich eine starke nationale und internationale Unterstützung ab.

Ausgezeichnet wird das „Komitee der WissenschaftlerInnen für den Frieden“, um seine verfolgten UnterzeichnerInnen zu unterstützen und zu helfen, eine Stärkung der Öffentlichkeit gegen die Kriegspolitik und Politik der Spaltung der türkischen Gesellschaft zu erreichen.